„Der Wind konnte das: Er änderte seine Richtung an einem der letzten Spätsommernachmittage einfach so, spielend leicht und unbeugsam. Denn er konnte tun, was er wollte, seit er eines Tages aufgetaucht war über dem Land.“
Es ist das Jahr 1967. Gerade ist der legendäre Jazz-Saxophonist John Coltrane gestorben. Es ist seine Ballade „You don’t know what love is“, die der Vierzehnjährige Fred Kemper aus einem Fenster in der heimischen Zechensiedlung zufällig hört. Die Musik und vor allem der Klang des Saxophons faszinieren ihn: „Durch alle Nerven lief ein wohliger Schauer von seinem Kopf bis in die Zehen hinab. Die winzigen Muskeln auf seiner Haut zogen sich zusammen. Er bekam eine Gänsehaut, so wie manchmal, wenn er erhitzt vom Fußballspiel plötzlich in den Schatten der Bäume lief. Aber was hatte jetzt dieses Erzittern ausgelöst und jenen Kitzel? Fred wollte das Gefühl noch einmal erleben, doch das Spiel wurde wieder nervöser. Und dann begriff er, was da geschah.“
So beginnt ein Roman, in dem immer wieder die Magie des Jazz auf grandiose Weise beschrieben wird. Man fühlt jeden Ton mit, jede Pause, jeden Lauf, jede Explosion, der besondere Sound findet sich wieder in einer ebenso rhythmischen wie ausdrucksstarken Sprache. Man muss die Jazz-Standards nicht kennen, um sie zu genießen: Im Kopf lässt der Autor Bildwelten und Assoziationen entstehen, die beweisen: „Jazz ist Zärtlichkeit und große Gewalt“.
Und dieses Lebensgefühl, diese Seelenstimmung packt auch Fred an jenem Spätsommernachmittag im Ruhrgebiet. Er beginnt mit aller Macht, seinen Traum zu träumen: auch er will Saxophonist werden. Viele Jahre übt er besessen, bis er seinen ersten Auftritt bei einer Jazzsession wagt. Das Publikum feiert ihn als herausragendes Talent. Zusammen mit den Session-Musikern gründet er das „Fred Kemper Quartett“, das in der Szene zu einem Geheimtipp wird. Konzerttouren bringen sie auch hinter den Eisernen Vorhang, wo sie Jazzfans in Budapest oder Bratislava begeistern. In seinen Solo-Improvisationen und auf der ständigen Suche nach dem „alternate take“ erfährt der Held die Freiheit des Augenblicks. Aber es bleibt schwer, von der Musik zu leben. Also schließt Fred nebenbei ein Lehrerstudium ab, das er seinen Eltern zuliebe begonnen hat. Als ein Schicksalsschlag das eingeschworene Quartett trifft und seine Freundin Zwillinge erwartet, muss Fred eine Entscheidung treffen – die er viele Jahre später bereut, denn er wird immer mehr zu einem Fremden in seinem eigenen Leben.
Kurz vor der Jahrtausendwende reist er nach Oslo, um seine große Liebe Lilli wiederzusehen und einen Neuanfang zu versuchen – zerrissen wie er ist: Zwischen der Sehnsucht nach Geborgenheit und der Erinnerung an das behütete Leben seiner Kindheit, aber eben auch dem Verlangen nach einer bedingungslosen Künstlerexistenz. So stehen sich in den spannungsvoll verschränkten Erzählsträngen und in atmosphärisch dichten Szenen auch die besondere herb-heimelige Romantik des Ruhrgebiets und die herausfordernde Aura der skandinavischen Küste gegenüber – bis zu jenem für Fred Kemper dramatischen Moment in der Silvesternacht 1999.
Stefan Sprang: „Fred Kemper und die Magie des Jazz“. Erschienen im Verlag Henselowsky Boschmann, 14,90€
Von Stefan Sprang ist bei geophon das Hörspiel „Helden:tot“ erschienen.